Hartmut Rosa über Entschleunigung, Pfadabhängigkeit, Bifurkationspunkte und die Rolle der Soziologie in der Corona Krise
Im Berliner Journal für Soziologie Volume 30, beschäftigt sich Hartmut Rosa mit dem Wesen und die Erscheinungsform der Corona-Krise aus Sicht der Beschleunigungstheorie.
Für Rosa bedeutet die Corona Pandemie nicht nur das Eintreten eines Virus in die Welt mit schwerwiegenden Folgen für Gesundheit, sondern auch eine “gewaltige strukturelle Erschütterung und Destabilisierung des global dominanten Sozial- und Gesellschaftssystems”. Der “Modus dynamischer Stabilisierung ” sei in Gefahr. Eine moderne Gesellschaft sei dadurch gekennzeichnet, dass sie sich immerzu steigern und dynamisieren muss, um sich zu erhalten. Das gelte vor allem für die Basisinstitutionen der Gesellschaft: “die kapitalistische Organisation der Wirtschaft, die demokratisch-repräsentative Organisation der Politik, die forschungsorientierte Arbeit der Wissenschaft, die sozialstaatliche Organisation der Wohlfahrt sowie die Bildungsinstitutionen und der Kunstbetrieb”. Das materielle Bewegungsprofil der Erde habe sich verändert.
Eine “scharfe Entkopplung zwischen einem sich verlangsamenden physisch-realen Verkehr und einer sich beschleunigenden digitalen Zirkulation, Kommunikation und Produktion für eine der auch strukturell bedeutsamsten Nebenfolge” hält Rosa für eine der signifikantes Folgen der Corona Krise. Ist diese Zwangsentschleunigung in Lebens-, Arbeits-und Mobilitätsbereichen nun bereits der dystopische oder utopische Endzeitzustand, den Paul Virilio in “Rasender Stillstand (1992)” gemeint haben könnte?
Was habe diese Erkenntnisse nun mit Systemtheorie und Systemischen Denken zu tun? Hartmut Rosa geht soweit zu behaupten, dass die systemtheoretische Sicht auf die moderne Gesellschaft unterkomplex war, denn sie ging von einer polykontextuellen Arbeitsweise der strukturell differenzierten Funktionssysteme aus. Jetzt sehen wir aber eine Unterordnung unter ein konzentriertes Funktionssystem – die Politik – mit überraschend effizientem zielgerichtete politisches Handeln. Covid_19 ist nicht der Virus, der den Flugverkehr fast komplett lahmlegte und hunderttausende Mitarbeiter in Kurzarbeit, Entlassung oder Home Office schickte: es waren politische Entscheidungen in nahezu allen Ländern dieser Welt. Damit wurde etwas erreicht, was z.B. Klimakonferenzen über viele Jahre nicht bewirken konnten.
Armin Nassehi führt in seinem in 2020 erschienen Buch “Das große Nein” die Figur des Veto-Spielers ein : “Diese Struktur der Differenzierung […] suspendiert die Position des Vetospielers, sie schließt Positionen aus, die in der Lage wären, das Gesamtsystem zu führen, zu stoppen, zu bestimmen“
Für Rosa ist klar: “Die Vorstellung, die Politik bilde einfach nur ein System neben allen anderen, erweist sich im Frühjahr 2020 insofern als eine kategoriale Fehleinschätzung.”
Man könnte hier genüsslich Habermas in 2020 zitieren – was Rosa auch tut : ” So viel Wissen über unser Nichtwissen und über den Zwang, unter Unsicherheit handeln und leben zu müssen, gab es noch nie.”